SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
TAMARA ĆAPETA
vom 13. Juli 2023(1)
Rechtssache C‑382/21 P
Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO)
gegen
The KaiKai Company Jaeger Wichmann GbR
„Rechtsmittel – Geistiges Eigentum – Gemeinschaftsgeschmacksmuster – Verordnung (EG) Nr. 6/2002 – Art. 41 Abs. 1 – Prioritätsrecht – Prioritätsanspruch aufgrund einer nach dem Vertrag über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens eingereichten internationalen Anmeldung – Prioritätsfrist – Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums – Art. 4 – Völkerrechtskonforme Auslegung des Unionsrechts – Unmittelbare Wirkung internationaler Übereinkünfte – Mechanismus der vorherigen Zulassung von Rechtsmitteln – Rechtssache, die eine für die Einheit, die Kohärenz oder die Entwicklung des Unionsrechts bedeutsame Frage aufwirft“
I. Einleitung
1. Gegenstand der vorliegenden Rechtssache ist das Rechtsmittel des Amtes der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) gegen das Urteil vom 14. April 2021, The KaiKai Company Jaeger Wichmann/EUIPO (Turn- oder Sportgeräte und ‑artikel) (T‑579/19, EU:T:2021:186) (im Folgenden: angefochtenes Urteil).
2. Mit diesem Urteil hob das Gericht die Entscheidung der Dritten Beschwerdekammer des EUIPO vom 13. Juni 2019 (Sache R 573/2019‑3) auf, mit der die Anerkennung des Prioritätsrechts für die von The KaiKai Company Jaeger Wichmann GbR (im Folgenden: KaiKai) eingereichte Anmeldung von Turn- oder Sportgeräten und ‑artikeln als Gemeinschaftsgeschmacksmuster nach der Verordnung Nr. 6/2002(2) abgelehnt worden war. Der Prioritätsanspruch von KaiKai beruhte auf einer früheren internationalen Anmeldung, die nach dem Vertrag über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens (im Folgenden: PCT)(3) eingereicht worden war.
3. Formal stützt sich dieses Rechtsmittel auf einen einzigen Rechtsgrund, mit dem gerügt wird, das Gericht habe Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 verletzt. Das Vorbringen des EUIPO wirft aber wichtige Fragen zum Verhältnis zwischen für die Union verbindlichen internationalen Übereinkünften und dem abgeleiteten Unionsrecht sowie zu den einschlägigen Befugnissen und Pflichten der Unionsgerichte in diesem Bereich auf. Im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittelverfahrens stellt sich auch die Frage nach der Auslegung einer internationalen Übereinkunft, hier der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums (im Folgenden: Pariser Verbandsübereinkunft oder PVÜ)(4).
4. Aus diesen Gründen wurde das vorliegende Rechtsmittel gemäß dem mit Art. 58a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union eingeführten Mechanismus der vorherigen Zulassung von Rechtsmitteln (im Folgenden: Filterverfahren für Rechtsmittel) zugelassen(5). Es handelt sich um das erste Rechtsmittel, das der Gerichtshof seit der Einführung dieses Mechanismus am 1. Mai 2019 zugelassen hat. Von diesem Mechanismus erfasste Rechtsmittel werden nur zugelassen, wenn sie eine für die Einheit, die Kohärenz oder die Entwicklung des Unionsrechts bedeutsame Frage aufwerfen(6).
5. Nach einer kurzen Schilderung des Hintergrundes dieser Rechtssache (II) werde ich kurz auf das Filterverfahren für Rechtsmittel eingehen und darlegen, warum das vorliegende Rechtsmittel zuzulassen war (III). Anschließend werde ich das Vorbringen der Parteien in der Sache prüfen (IV).
II. Hintergrund
A. Einschlägige Rechtsvorschriften
1. Verordnung Nr. 6/2002
6. Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 bestimmt:
„Jedermann, der in einem oder mit Wirkung für einen Vertragsstaat der Pariser Verbandsübereinkunft oder des Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation ein Geschmacksmuster oder ein Gebrauchsmuster vorschriftsmäßig angemeldet hat, oder sein Rechtsnachfolger genießt hinsichtlich der Anmeldung als eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster für dieses Muster oder Gebrauchsmuster ein Prioritätsrecht von sechs Monaten nach Einreichung der ersten Anmeldung.“
2. Pariser Verbandsübereinkunft
7. Art. 4 Abschnitt A Abs. 1 PVÜ sieht vor:
„Wer in einem der [Vertragsstaaten der PVÜ] die Anmeldung für ein Erfindungspatent, ein Gebrauchsmuster, ein gewerbliches Muster oder Modell, eine Fabrik- oder Handelsmarke vorschriftsmäßig hinterlegt hat oder sein Rechtsnachfolger genießt für die Hinterlegung in den anderen Ländern während der unten bestimmten Fristen ein Prioritätsrecht.“
8. Art. 4 Abschnitt C Abs. 1 PVÜ lautet:
„Die oben erwähnten Prioritätsfristen betragen zwölf Monate für die Erfindungspatente und die Gebrauchsmuster und sechs Monate für die gewerblichen Muster oder Modelle und für die Fabrik- oder Handelsmarken.“
9. Art. 4 Abschnitt E PVÜ bestimmt:
„(1) Wird in einem Land ein gewerbliches Muster oder Modell unter Inanspruchnahme eines auf die Anmeldung eines Gebrauchsmusters gegründeten Prioritätsrechts hinterlegt, so ist nur die für gewerbliche Muster oder Modelle bestimmte Prioritätsfrist maßgebend.
(2) Im Übrigen ist es zulässig, in einem Land ein Gebrauchsmuster unter Inanspruchnahme eines auf die Hinterlegung einer Patentanmeldung gegründeten Prioritätsrechts zu hinterlegen und umgekehrt.“
B. Ereignisse, die zum Verfahren vor dem Gericht führten
10. Am 24. Oktober 2018 beantragte KaiKai nach der Verordnung Nr. 6/2002 beim EUIPO als Sammelanmeldung die Eintragung von zwölf Gemeinschaftsgeschmacksmustern. KaiKai beanspruchte eine Priorität, die auf die von ihr am 26. Oktober 2017 aufgrund des PCT eingereichte frühere internationale Anmeldung PCT/EP2017/077469 gestützt war.
11. Unter Berufung auf Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 akzeptierte der Prüfer des EUIPO die Sammelanmeldung, wies jedoch den Prioritätsanspruch zurück, weil die internationale Anmeldung von KaiKai außerhalb der in dieser Vorschrift festgelegten Sechsmonatsfrist eingereicht worden sei.
12. KaiKai legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein, wobei sie im Kern geltend machte, die Prioritätsfrist betrage nicht sechs, sondern zwölf Monate.
13. Mit Entscheidung vom 13. Juni 2019 (R 573/2019-3) wies die Dritte Beschwerdekammer des EUIPO diese Beschwerde zurück. Die Beschwerdekammer stellte im Wesentlichen fest, dass der Prüfer Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 korrekt angewandt habe, wonach eine internationale Anmeldung gemäß dem PCT einer Gebrauchsmusteranmeldung gleichgesetzt werden und daher als Grundlage für einen Prioritätsanspruch hinsichtlich eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters dienen könne. Eine solche Priorität müsse aber innerhalb der vorgeschriebenen Sechsmonatsfrist in Anspruch genommen werden, die in dem von KaiKai betriebenen Verfahren überschritten worden sei.
C. Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil
14. Am 20. August 2019 focht KaiKai die Entscheidung der Beschwerdekammer mit einer Klage vor dem Gericht an. KaiKai machte zwei Klagegründe geltend: erstens eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften und zweitens einen Verstoß gegen die Verordnung Nr. 6/2002.
15. Mit dem angefochtenen Urteil gab das Gericht dem zweiten Klagegrund von KaiKai statt und hob, ohne über den ersten Klagegrund zu befinden, die Entscheidung der Beschwerdekammer auf.
16. Das EUIPO habe – so das Gericht – zu Recht entschieden, dass eine internationale Anmeldung gemäß dem PCT herangezogen werden könne, um nach Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 die Priorität eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters in Anspruch zu nehmen. Jedoch habe das EUIPO im vorliegenden Fall zu Unrecht eine sechsmonatige anstelle einer zwölfmonatigen Prioritätsfrist angewandt.
17. Die von KaiKai nach dem PCT eingereichte internationale Anmeldung sei nämlich auch als internationale Patentanmeldung und nicht nur als Gebrauchsmusteranmeldung anzusehen. Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 enthalte keine Regelung der sich aus einer Patentanmeldung ergebenden Prioritätsfrist; er regele nur die Fristdauer für den Fall, dass die Priorität auf einer früheren Anmeldung eines Geschmacks- oder Gebrauchsmusters beruhe. Im letzteren Fall betrage diese Frist sechs Monate. Zur Schließung dieser Regelungslücke sei Art. 4 PVÜ heranzuziehen.
18. Das Gericht nahm offenbar an, dass die PVÜ Prioritätsansprüche zwischen verschiedenen Kombinationen von Rechten des geistigen Eigentums zulasse. Daher könne nach der PVÜ die Priorität eines gewerblichen Musters oder Modells aufgrund einer früheren Patentanmeldung beansprucht werden. In diesem Fall betrage die Prioritätsfrist zwölf Monate, da Art. 4 Abschnitt C Abs. 1 PVÜ für Patente eine zwölfmonatige Prioritätsfrist vorsehe.
19. Maßgeblich für die Prioritätsfrist der Kombination aus einem früheren Patent und einem späteren Geschmacksmuster sei die in der PVÜ für Patente festgelegte Frist. Denn die PVÜ enthalte eine allgemeine Regel, wonach die Art des älteren Rechts die Dauer der Prioritätsfrist bestimme. Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 PVÜ – wonach es auf die für das spätere Recht festgesetzte Prioritätsfrist ankomme, wenn dieses spätere Recht ein Geschmacksmuster und das frühere Recht ein Gebrauchsmuster sei – sei eine Sonderregel, die eine Ausnahme von dieser allgemeinen Regel darstelle.
20. Folglich habe das EUIPO zu Unrecht festgestellt, dass die für die Inanspruchnahme der Priorität für eine frühere internationale Patentanmeldung maßgebliche Prioritätsfrist bei der Anmeldung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters sechs Monate betrage.
D. Verfahren vor dem Gerichtshof
21. Am 23. Juni 2021 hat das EUIPO das vorliegende Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts eingelegt. Das EUIPO beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage von KaiKai im ersten Rechtszug abzuweisen. Das EUIPO beantragt auch, KaiKai sämtliche Kosten aufzuerlegen.
22. Am 23. Juni 2021 hat das EUIPO außerdem gemäß Art. 58a der Satzung und Art. 170a der Verfahrensordnung des Gerichtshofs den Antrag gestellt, das Rechtsmittel zuzulassen.
23. Mit Beschluss vom 10. Dezember 2021, EUIPO/The KaiKai Company Jaeger Wichmann (C‑382/21 P, EU:C:2021:1050), hat der Gerichtshof das Rechtsmittel zugelassen.
24. In ihrer Rechtsmittelbeantwortung, die am 25. Februar 2022 eingereicht worden ist, beantragt KaiKai, das Rechtsmittel zurückzuweisen und dem EUIPO sämtliche Kosten aufzuerlegen.
25. Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 8. April 2022 ist die Kommission als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des EUIPO zugelassen worden.
26. Das EUIPO und KaiKai haben am 30. Mai 2022 bzw. 11. Juli 2022 eine Erwiderung und eine Gegenerwiderung eingereicht.
27. In einer am 13. März 2023 anberaumten Sitzung haben das EUIPO, KaiKai und die Kommission mündlich verhandelt.
III. Das Filterverfahren für Rechtsmittel und seine Anwendung im vorliegenden Fall
28. Wie in der Einleitung erwähnt, handelt es sich vorliegend um den ersten Fall, in dem der Gerichtshof ein Rechtsmittel im Rahmen des Filterverfahrens für Rechtsmittel zugelassen hat(7). Wegen der Neuartigkeit dieses Verfahrens möchte ich einige Bemerkungen dazu machen und darlegen, wie es in unserem Fall gehandhabt worden ist.
A. Bemerkungen zum Filterverfahren für Rechtsmittel
29. Das Filterverfahren für Rechtsmittel ist Teil der (noch nicht abgeschlossenen) Reform des Gerichtssystems der Union. Die Anregung dazu geht auf die Tatsache zurück, dass zahlreiche Rechtsmittel in Rechtssachen eingelegt werden, die bereits zweifach geprüft wurden, nämlich in einem ersten Schritt von einer unabhängigen Beschwerdekammer und anschließend vom Gericht, und dass viele dieser Rechtsmittel als offensichtlich unzulässig oder eindeutig unbegründet zurückgewiesen werden. Daher wurde dieses Verfahren eingeführt, damit sich der Gerichtshof auf die Rechtssachen konzentrieren kann, die seine ganze Aufmerksamkeit erfordern(8).
30. Das Filterverfahren für Rechtsmittel gilt derzeit für Entscheidungen unabhängiger Beschwerdekammern von vier Ämtern bzw. Agenturen der EU (EUIPO, Gemeinschaftliches Sortenamt, Europäische Chemikalienagentur und Agentur der Europäischen Union für Flugsicherheit) sowie für Entscheidungen unabhängiger Beschwerdekammern, die nach dem 1. Mai 2019 innerhalb sonstiger Ämter oder Agenturen der EU eingerichtet wurden(9). Sofern der Unionsgesetzgeber den jüngsten Vorschlag des Gerichtshofs annimmt, wird dieses Verfahren auch auf eine Reihe anderer bestehender Ämter, Einrichtungen und Agenturen der EU angewandt werden, die über eine unabhängige Beschwerdekammer verfügen(10).
31. Im Rahmen des Filterverfahrens für Rechtsmittel lässt der Gerichtshof ein Rechtsmittel ganz oder in Teilen nur dann zu, „wenn damit eine für die Einheit, die Kohärenz oder die Entwicklung des Unionsrechts bedeutsame Frage aufgeworfen wird“(11). Der Antrag auf Zulassung eines Rechtsmittels muss vom Rechtsmittelführer in einem der Rechtsmittelschrift als Anlage beigefügten gesonderten Schriftsatz gestellt werden, in dem dargelegt wird, warum das Rechtsmittel für die Einheit, die Kohärenz oder die Entwicklung des Unionsrechts bedeutsam ist(12).
32. Die einschlägigen Verfahrensvorschriften enthalten keine näheren Angaben dazu, was unter einer für die Einheit, die Kohärenz oder die Entwicklung des Unionsrechts bedeutsamen Frage zu verstehen ist. Es bleibt vielmehr dem Gerichtshof überlassen, dies in seiner Rechtsprechung zu klären(13). Außerdem wird in diesen Vorschriften das Wort „oder“ und nicht „und“ verwendet („die Einheit, die Kohärenz oder die Entwicklung des Unionsrechts“), so dass ein Rechtsmittel auch dann eingelegt werden kann, wenn es um eine oder zwei, nicht aber um die betreffenden Kategorien insgesamt geht.
33. Diese offene Formulierung lässt darauf schließen, dass dem Gerichtshof ein weites Ermessen bei der Entscheidung zusteht, ob ein konkretes Rechtsmittel eine Frage aufwirft, die seiner Ansicht nach für die allgemeine Entwicklung der Unionsrechtsordnung bedeutsam ist.
34. Dies lässt mich im Wege einer vergleichenden Betrachtung etwa an die Regeln für das Certiorari-Verfahren des Supreme Court (Oberster Gerichtshof) der Vereinigten Staaten (im Folgenden: US-Supreme Court) denken, in dessen Rahmen Letzterer ersucht wird, Entscheidungen von Untergerichten in bundesrechtlichen Angelegenheiten zu überprüfen. In der Regel nimmt der US-Supreme Court (Oberster Gerichtshof) solche Fälle nur dann zur Entscheidung an, wenn sie mutmaßlich von nationaler Bedeutung sind, einander widersprechende Entscheidungen harmonisieren oder Präzedenzcharakter haben(14).
35. Regel 10 („Erwägungen zur Überprüfung aufgrund von Certiorari“) des US-Supreme Court (Oberster Gerichtshof)(15) besagt, dass die Überprüfung aufgrund eines „writ of certiorari“ nicht auf einem Recht, sondern auf richterlichem Ermessen beruht und nur aus zwingenden Gründen gewährt wird. Diese Regel benennt einige Faktoren, die berücksichtigt werden können, die aber „weder für das Ermessen des Gerichts ausschlaggebend sind noch dieses vollständig erfassen“(16).
36. Das Filterverfahren für Rechtsmittel kann aus meiner Sicht als eine Art „Certiorari der Europäischen Union“ verstanden werden. Es ist nicht dazu da, jeden Fehler des Gerichts zu korrigieren, sondern nur Fehler von grundlegender Bedeutung. Es soll daher nur zum Einsatz kommen, wenn die Entscheidung des Gerichtshofs fundamentale Auswirkungen auf die Unionsrechtsordnung haben kann(17).
37. Durch das Filterverfahren für Rechtsmittel wird die Funktion des Gerichtshofs als des Obersten und Verfassungsgerichts der Europäischen Union hervorgehoben(18). Der Gerichtshof wird dadurch nämlich mit Fällen „verfassungsrechtlicher Art“ betraut, die für die Union bedeutsam sind und die Auslegung fundamentaler Verfassungsgrundsätze des Unionsrechts sowie die horizontale und die vertikale Kompetenzverteilung betreffen.
38. Das Filterverfahren für Rechtsmittel stärkt meines Erachtens auch die Rolle des Gerichts. In allen Fällen, in denen der Gerichtshof ein Rechtsmittel nicht zulässt, ist das Gericht die letzte Instanz für Rechtsstreitigkeiten zwischen privaten Parteien und Unionsbehörden in zahlreichen Bereichen (einschließlich des Bereichs des geistigen Eigentums), so dass die Auslegung des geltenden Rechts durch das Gericht unionsweit verbindlich ist.
B. Fragestellungen, die die Zulassung des vorliegenden Rechtsmittels rechtfertigen
39. Aus dem Beschluss, mit dem das Rechtsmittel zugelassen wurde, geht hervor(19), dass das angefochtene Urteil nicht nur einen Präzedenzwert für künftige Fälle im Zusammenhang mit Prioritätsrechten haben kann, sondern auch wichtige Fragen für das Recht der Außenbeziehungen der Union sowie für die horizontale Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Unionsgerichten und anderen Unionsorganen aufwirft. Der Gerichtshof hat daher festgestellt, dass dieses Rechtsmittel für die Einheit, die Kohärenz „und“ die Entwicklung des Unionsrechts bedeutsame Fragen aufwirft.
40. Nach meinem Dafürhalten ist die vorliegende Rechtssache durch zwei Problemkreise gekennzeichnet, die ihre Zulassung im Rahmen des Filterverfahrens für Rechtsmittel rechtfertigen.
41. Der erste Problemkreis betrifft die Anwendbarkeit für die Union verbindlicher internationaler Übereinkünfte vor den Unionsgerichten. Dabei geht es, genauer gesagt, zum einen um das Verhältnis zwischen der unmittelbaren Wirkung und der Auslegungswirkung solcher Übereinkünfte. Im vorliegenden Fall macht das EUIPO geltend, das Gericht habe die (nicht vorhandene) Lücke in der einschlägigen Unionsregelung (Verordnung Nr. 6/2002) dadurch geschlossen, dass es der (von ihm falsch ausgelegten) PVÜ unmittelbare Wirkung beigemessen habe. Nach Ansicht des EUIPO hat die PVÜ keine unmittelbare Wirkung innerhalb der Unionsrechtsordnung. Zugleich leugnet das EUIPO nicht die mögliche Auslegungswirkung dieser Übereinkunft. Der Gerichtshof ist daher aufgerufen, zu klären, wann eine internationale Übereinkunft unmittelbare Wirkung hat und ob sie, wenn ihr eine derartige Wirkung nicht zukommt, eine Auslegungswirkung haben kann.
42. Zum anderen stellt sich im Zusammenhang mit der Anwendbarkeit internationaler Übereinkünfte die Frage, welches die Schranken einer konformen Auslegung sind und ob für die Auslegung des Unionsrechts im Einklang mit internationalen Übereinkünften die gleichen Schranken gelten wie für die unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts. Diese Frage wurde durch das Vorbringen des EUIPO, das Gericht habe die Contra-legem-Grenze überschritten, aufgeworfen. In der vorliegenden Rechtssache ist der Gerichtshof daher aufgerufen, zu entscheiden, ob die Feststellung einer Lücke in einer Unionsregelung eine Form der konformen Auslegung darstellt.
43. Der zweite Fragenkomplex, der die Zulassung des Rechtsmittels rechtfertigt, betrifft die Auslegung der PVÜ. In der vorliegenden Rechtssache rügt das EUIPO eine fehlerhafte Auslegung der PVÜ durch das Gericht. Die PVÜ sehe kein Prioritätsrecht für eine spätere Geschmacksmusteranmeldung vor, wenn diese auf einer früheren Patentanmeldung beruhe. Sie enthalte auch keine allgemeine Regel, wonach es für die Prioritätsfrist maßgeblich auf die Art des älteren Rechts ankomme. Das wirft die Frage auf, wovon sich der Gerichtshof bei der Auslegung der PVÜ und anderer internationaler Übereinkünfte leiten lassen sollte.
IV. Rechtliche Würdigung
44. Das EUIPO macht, unterstützt von der Kommission, einen einzigen Rechtsmittelgrund geltend, mit dem es einen Verstoß gegen Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 beanstandet. Dieser einzige Rechtsgrund besteht aus drei Rügen: Erstens habe das Gericht die Verordnung Nr. 6/2002 contra legem ausgelegt. Zweitens habe es der PVÜ entgegen dem Unionsrecht unmittelbare Wirkung zuerkannt. Drittens habe es die PVÜ und den PCT unzutreffend ausgelegt.
45. Die ersten beiden Rügen des EUIPO, die ich unter A. prüfen werde, betreffen die Anwendbarkeit der PVÜ vor den Unionsgerichten. Zum besseren Verständnis meiner Argumentation werde ich sie in umgekehrter Reihenfolge behandeln. Anschließend werde ich mich unter B. mit der Auslegung der PVÜ befassen.
A. Anwendbarkeit der Pariser Verbandsübereinkunft vor den Unionsgerichten
46. Eingangs ist festzuhalten, dass eine Rechtsnorm auf einen Fall in unterschiedlicher Weise angewandt werden kann(20). Sie kann dazu dienen, bestimmte Sachverhalte unmittelbar zu regeln, entweder ohne dass andere Normen herangezogen werden müssten, oder sogar dadurch, dass andere Normen, die der anzuwendenden Norm entgegenstehen, außer Acht gelassen werden. Im Unionsrecht wird dies als unmittelbare Wirkung bezeichnet. Eine Rechtsnorm kann auch mittelbar angewandt werden, wenn sie etwa als Leitlinie für die Auslegung einer anderen anzuwendenden Norm dient. Im Unionsrecht wird dies als mittelbare oder auslegende Wirkung bezeichnet. Für die folgende Erörterung ist es wichtig, zu sehen, dass beide zu demselben Ergebnis führen. Wenn beispielsweise ein Rechtsstreit unmittelbar auf der Grundlage einer Richtlinie entschieden wird, ist das Ergebnis das gleiche, wie wenn dieser Rechtsstreit auf der Grundlage einer richtlinienkonform ausgelegten nationalen Regelung entschieden wird.
47. Das EUIPO und die Kommission tragen vor, die PVÜ habe keine unmittelbare Wirkung. Ohne die Möglichkeit einer Auslegungswirkung dieser Übereinkunft zu leugnen, halten sie diese im vorliegenden Fall für ausgeschlossen, da hierfür die Verordnung Nr. 6/2002 contra legem ausgelegt werden müsste. Im ersten Teil meiner rechtlichen Würdigung werde ich darlegen, dass eine internationale Übereinkunft vor den Unionsgerichten entweder anwendbar (und zwar unmittelbar oder mittelbar) oder nicht anwendbar (weder unmittelbar noch mittelbar) ist. Meines Erachtens ist die PVÜ anwendbar, weshalb ich im zweiten Teil dieser Würdigung die vom EUIPO aufgeworfene Frage nach den Grenzen der konformen Auslegung prüfen werde.
1. Unmittelbare Wirkung und Auslegungswirkung der Pariser Verbandsübereinkunft
48. Das EUIPO rügt mit Unterstützung der Kommission, dass das Gericht rechtsfehlerhaft Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 durch die (falsch ausgelegten) Bestimmungen der PVÜ ersetzt habe. Dadurch sei Art. 4 PVÜ entgegen der Rechtsprechung des Gerichtshofs unmittelbare Wirkung beigemessen worden. Die fehlende unmittelbare Wirkung der PVÜ ergebe sich auch aus deren Art. 25; jedenfalls seien die Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirkung (unbedingt und hinreichend genau) nicht erfüllt.
49. KaiKai erörtert die mögliche unmittelbare Wirkung der PVÜ nicht, macht aber geltend, dass das Gericht deren Auslegungswirkung nur anerkannt habe, als es die Lücke in Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 durch Bezugnahme auf Art. 4 PVÜ gefüllt habe.
50. Welche Wirkung kann eine internationale Übereinkunft wie die PVÜ vor den Unionsgerichten haben?
51. Zunächst stellt sich die Frage nach der Art der Anwendbarkeit einer internationalen Übereinkunft in der Union nur dann, wenn diese Übereinkunft Bestandteil der Unionsrechtsordnung ist. Eine internationale Übereinkunft ist grundsätzlich Teil der Unionsrechtsordnung, wenn die Union Vertragspartei der Übereinkunft ist(21). Sobald eine solche Übereinkunft Teil der Unionsrechtsordnung ist, bindet sie die Organe der Union und die Mitgliedstaaten(22) und hat Vorrang vor dem abgeleiteten Unionsrecht(23).
52. Die Union ist nicht Vertragspartei der PVÜ. Obwohl alle Mitgliedstaaten der Union Vertragsparteien sind, bedeutet dies allein nicht, dass die PVÜ auch Bestandteil der Unionsrechtsordnung und für die Unionsorgane verbindlich wäre.
53. Die Union ist jedoch Vertragspartei des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (im Folgenden: TRIPS-Übereinkommen)(24), das zu den Übereinkommen der WTO gehört. Im TRIPS-Übereinkommen selbst sind keine Prioritätsrechte geregelt. Sein Art. 2 Abs. 1 bestimmt:
„In Bezug auf die Teile II, III und IV dieses Übereinkommens befolgen die Mitglieder die Artikel 1 bis 12 sowie Artikel 19 der Pariser Verbandsübereinkunft.“
54. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die Union Prioritätsrechte in gleicher Weise anerkennen muss, wie solche Rechte in der PVÜ anerkannt werden(25). Die Union ist daher durch ihre Verpflichtungen aus dem TRIPS-Übereinkommen an Art. 4 PVÜ gebunden, der für den vorliegenden Fall relevant ist(26).
55. Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, ob sich eine Partei wie KaiKai vor den Unionsgerichten unmittelbar oder zwecks Auslegung des anwendbaren Unionsrechts auf Art. 4 PVÜ berufen kann.
56. Ob eine Rechtsnorm unmittelbare Wirkung hat, hängt nicht nur von ihrer Klarheit, sondern auch von ihrem Kontext ab. So hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass eine Richtlinienbestimmung, selbst wenn sie hinreichend klar und unbedingt ist, keine unmittelbare Wirkung zur Entscheidung eines Rechtsstreits zwischen Einzelnen entfalten kann(27).
57. In ähnlicher Weise hängt die unmittelbare Wirkung einer internationalen Übereinkunft nicht nur von der Klarheit der Bestimmungen ab, mit denen dem Einzelnen Rechte verliehen werden sollen, sondern auch von der Natur der fraglichen Übereinkunf(28).
58. Grundsätzlich schließen die Verträge die Anerkennung der unmittelbaren Wirkung internationaler Übereinkünfte nicht aus. So hat der Gerichtshof beispielsweise die unmittelbare Wirkung mehrerer Assoziationsabkommen anerkannt, unabhängig davon, ob sie dazu bestimmt waren, einen Staat auf die künftige Unionsmitgliedschaft vorzubereiten(29), oder nicht(30). Der Gerichtshof hat auch die unmittelbare Wirkung anderer bilateraler Abkommen, wie des Open-Skies-Abkommens mit den Vereinigten Staaten(31) und einiger Bestimmungen multilateraler Abkommen, wie der Abkommen von Jaunde und Lomé(32) sowie des Protokolls über den Schutz des Mittelmeers gegen Verschmutzung vom Lande aus(33), anerkannt.
59. Hingegen war die Natur der WTO-Abkommen, nicht aber deren unklarer Wortlaut, der Hauptgrund für die Rechtsprechung, wonach diese Abkommen grundsätzlich keine unmittelbare Wirkung entfalten(34).
60. Der Gerichtshof hat in Anbetracht der Rechtsprechung zum WTO-System auch eine unmittelbare Wirkung des TRIPS-Übereinkommens grundsätzlich ausgeschlossen(35).
61. Da einige Bestimmungen der PVÜ Bestandteil des Unionsrechts geworden sind und die Union durch das TRIPS-Übereinkommen binden, ist der Schluss erlaubt, dass auch diesen Bestimmungen grundsätzlich keine unmittelbare Wirkung zuzuerkennen ist.
62. Das Wesen der WTO-Übereinkünfte, auf das der Gerichtshof abstellte, als er diesen eine unmittelbare Wirkung grundsätzlich absprach, hat mit der Flexibilität und der Gegenseitigkeit der Verpflichtungen zu tun, die die Union gegenüber anderen Vertragsparteien eingegangen ist. Das WTO-System ist insofern flexibel, als von seinen Bestimmungen abgewichen werden kann und verschiedene Verhandlungslösungen zur Beilegung daraus resultierender Streitigkeiten möglich sind(36). Diese Flexibilität gestattet es den politischen Organen der Union, ebenso wie den anderen Vertragsparteien der WTO-Übereinkünfte, für Lösungen zu optieren, die der Gerichtshof eventuell als eigentlich nicht den Vorgaben der WTO entsprechend ansieht. Um diesen politischen Handlungsspielraum zu bewahren, hielt der Gerichtshof es für angebracht, die Gültigkeit von Rechtsakten der Union nicht anhand des WTO-Rechts zu überprüfen. Anstatt dies als eine Art bewusste Selbstbeschränkung zur Wahrung der Kompetenzverteilung innerhalb der WTO darzustellen, griff der Gerichtshof auf die Rechtsfigur der unmittelbaren Wirkung zurück. Allerdings sollte durch die grundsätzliche Weigerung, dem WTO-Recht unmittelbare Wirkung zuzuerkennen, meines Erachtens dem Einzelnen nicht die Möglichkeit genommen werden, sich vor Gericht auf internationale Übereinkünfte zu berufen, sondern vielmehr den Unionsorganen ein politischer Handlungsspielraum eingeräumt werden(37).
63. Gleichwohl hat der Gerichtshof von seiner Befugnis zur gerichtlichen Kontrolle von Rechtsakten der Union anhand des WTO-Rechts Gebrauch gemacht, wenn er der Auffassung war, dass der Unionsgesetzgeber den durch das WTO-System eingeräumten politischen Handlungsspielraum gar nicht nutzen wollte. In einer solchen Situation würde die gerichtliche Kontrolle den auf WTO-Ebene erforderlichen politischen Handlungsspielraum nicht beeinträchtigen(38).
64. Es lassen sich somit zwei Fallgestaltungen unterscheiden, von denen die unmittelbare Anwendbarkeit des WTO-Rechts abhängt. Die erste Konstellation, die durch Fälle wie die Rechtssache Nakajima(39) repräsentiert wird, liegt vor, wenn die einschlägige unionsrechtliche Regelung nach Ansicht des Gerichtshofs zur Erfüllung einer auf der WTO beruhenden Verpflichtung erlassen wurde. Der Begriff „zur Erfüllung“ erfasst nicht nur eine Situation, in der eine WTO-Verpflichtung weitere Durchführungsmaßnahmen erfordert, sondern auch Situationen, in denen der Unionsgesetzgeber beschlossen hat, sein (bestehendes oder neues) Recht an seine WTO-Verpflichtungen anzupassen. Bei der zweiten Konstellation, die durch Fälle wie die Rechtssache Rusal Armenal(40) repräsentiert wird, hält es der Gerichtshof für möglich, dass der Unionsgesetzgeber gegebenenfalls eine spezifische unionsrechtliche Maßnahme erlassen wollte, und zwar ungeachtet seiner WTO-Verpflichtungen. Das bedeutet nicht, dass die von der Union getroffene Maßnahme mit dem WTO-Recht unvereinbar wäre, sondern nur, dass sie erlassen wurde, ohne dass versucht worden wäre, sie an die WTO-Verpflichtungen anzupassen.
65. Beide Fallgestaltungen schließen sich gegenseitig aus. Mit anderen Worten, wie ich bereits an anderer Stelle erklärt habe(41): Entweder gilt das Urteil Nakajima oder das Urteil Rusal Armenal.
66. Im vorliegenden Fall macht die Kommission geltend, aus Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 könne nicht geschlossen werden, dass der Unionsgesetzgeber Art. 4 PVÜ zu einem unionsrechtlichen Maßstab für die Prioritätsfristen habe machen wollen, die für die Anmeldung von Gemeinschaftsgeschmacksmustern in Anspruch genommen werden könnten(42). Vielmehr habe die Union ihre eigene Methode festgelegt: Bei der Anmeldung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters könne ein Prioritätsrecht aus einer früheren Anmeldung eines Geschmacks- oder Gebrauchsmusters während eines Zeitraums von sechs Monaten in Anspruch genommen werden. Damit habe der Unionsgesetzgeber, wie vom EUIPO vorgetragen, jede andere Art der früheren Anmeldung, einschließlich einer Patentanmeldung, bewusst ausgeschlossen. Diese Lösung stehe im Einklang mit der PVÜ; aber selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, wäre dies unerheblich, da hierin der eindeutige Wille des Unionsgesetzgebers zum Ausdruck komme, über den sich der Gerichtshof bei Anwendung einer anderen Lösung hinwegsetzen würde. Es liege, mit anderen Worten, eine Rusal-Armenal-Situation, nicht aber eine Nakajima-Situation vor. Daher gebe es keinen Grund, der PVÜ unmittelbare Wirkung beizumessen.
67. Dem kann ich nicht zustimmen. Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 ist dahin auszulegen, dass er den Willen des Unionsgesetzgebers zum Ausdruck bringt, diese Bestimmung an Art. 4 PVÜ anzupassen. Erstens ist der Wortlaut von Art. 41 der Verordnung Nr. 6/2002, wie vom Gerichtshof bestätigt(43), praktisch identisch mit Art. 4 PVÜ. Das deutet auf den Willen des Gesetzgebers hin, die Verordnung Nr. 6/2002 an diese internationale Übereinkunft anzugleichen(44). Zweitens dürfte die Erwähnung des Gebrauchsmusters neben dem Geschmacksmuster den Willen des Unionsgesetzgebers verdeutlichen, Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 PVÜ Wirkung zu verleihen. Dies scheint sich auch aus den Vorarbeiten zur Verordnung Nr. 6/2002 zu ergeben, in deren Rahmen die Kommission ihren ursprünglichen Vorschlag geändert hat, um ihn an Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 PVÜ anzupassen(45).
68. In Anbetracht dessen bin ich der Meinung, dass die Natur der durch das TRIPS-Übereinkommen in das Unionsrecht integrierten PVÜ unter den Umständen des vorliegenden Falles ihrer unmittelbaren Wirkung nicht entgegensteht. Mit Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 wollte der Unionsgesetzgeber das Geschmacksmusterrecht der Union in Bezug auf die Entstehung und die Dauer von Prioritätsrechten an die PVÜ angleichen. Der vorliegende Fall ähnelt daher eher einer Nakajima-Situation als einer Rusal-Armenal-Situation.
69. Ich kann auch nicht dem EUIPO und der Kommission zustimmen, soweit sie meinen, Art. 25 Abs. 1 PVÜ stehe einer unmittelbaren Wirkung der PVÜ entgegen. Diese Bestimmung mit der Überschrift „Anwendung der Übereinkunft durch die Vertragsländer“ sieht vor: „Jedes Vertragsland dieser Übereinkunft verpflichtet sich, entsprechend seiner Verfassung die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Anwendung dieser Übereinkunft zu gewährleisten.“ Nach meinem Verständnis verpflichtet diese Bestimmung die Vertragsparteien lediglich dazu, das nach ihrer jeweiligen Verfassung Erforderliche zu tun. Für die Länder, deren Verfassung das Verhältnis ihrer Rechtsordnung zum Völkerrecht überwiegend dualistisch regelt, kann dies bedeuten, dass sie die PVÜ in eine innerstaatliche Rechtsquelle umsetzen müssen, um ihr Wirkung zu verleihen. Wie bereits dargelegt, schließen die Verträge aber die unmittelbare Wirkung internationaler Übereinkünfte, die die Union binden, nicht grundsätzlich aus. Während einige PVÜ-Bestimmungen tatsächlich zusätzliche Entscheidungen des Unionsgesetzgebers erfordern dürften, können diejenigen Bestimmungen, die ohne zusätzliche Entscheidungen angewendet werden können, unmittelbare Wirkung haben. Da der Unionsgesetzgeber von der Flexibilität des TRIPS-Übereinkommens keinen Gebrauch machen wollte, sondern beschloss, seine die Prioritätsrechte betreffende Regelung an die Vorgaben der PVÜ anzupassen, hängt die unmittelbare Wirkung der einschlägigen PVÜ-Bestimmungen davon ab, ob sie den üblichen Kriterien – hinreichende Genauigkeit und Unbedingtheit – genügen. Mit der Auslegung der einschlägigen PVÜ-Bestimmungen werde ich mich in den Nrn. 94 bis 140 dieser Schlussanträge befassen.
70. An dieser Stelle muss ein weiterer Punkt angesprochen werden. KaiKai macht geltend, das Gericht habe dadurch, dass es die Gesetzeslücke ausgefüllt habe, der PVÜ keine unmittelbare, sondern eine auslegende Wirkung beigemessen. Insoweit stimme ich KaiKai zu. Das Vorbringen des EUIPO, das Gericht habe der (falsch ausgelegten) PVÜ rechtsfehlerhaft unmittelbare Wirkung zuerkannt, ist daher zurückzuweisen, und zwar nicht, weil die PVÜ im vorliegenden Fall keine unmittelbare Wirkung hätte, sondern deshalb, weil das Gericht sie nicht unmittelbar angewandt, sondern zu Auslegungszwecken herangezogen hat.
71. Das EUIPO lehnt zwar die Möglichkeit einer unmittelbaren Wirkung der PVÜ ab, nicht aber deren mögliche Auslegungswirkung. Das wirft die folgende Frage auf.
72. Wenn wir uns tatsächlich, wie vom EUIPO und der Kommission vorgetragen, in einer Rusal-Armenal-Situation befinden und der PVÜ keine unmittelbare Wirkung zur Wahrung des politischen Handlungsspielraums der Unionsorgane im Rahmen des TRIPS-Übereinkommens – einschließlich der Möglichkeit, bei der Regelung der Gemeinschaftsgeschmacksmuster von den Vorgaben der PVÜ abzuweichen – zuzuerkennen ist, warum sollte sich der Gerichtshof dann überhaupt bemühen, die relevanten Rechtsakte der Union PVÜ-konform auszulegen?
73. Wie eingangs dargelegt (siehe Nr. 46 dieser Schlussanträge), führt es, wenn der Gerichtshof Rechtsakte der Union wirksam im Einklang mit einer internationalen Übereinkunft auslegt, zu demselben Ergebnis, wie wenn dieser Übereinkunft unmittelbare Wirkung verliehen würde. Hat der Gerichtshof eine unmittelbare Wirkung abgelehnt, um den politischen Handlungsspielraum der Unionsorgane für eine Abweichung von einer internationalen Verpflichtung zu wahren, so sprechen dieselben Gründe dafür, auch von einer konformen Auslegung abzusehen.
74. Die den nationalen Gerichten obliegende konforme Auslegung beinhaltet die weitreichende Verpflichtung, alles zu tun, um ein vom Unionsrecht vorgeschriebenes Ergebnis durch Auslegung des nationalen Rechts zu erreichen(46). Dies verlangt eine konforme Auslegung nicht nur des zur Umsetzung des Unionsrechts (in der Regel einer Richtlinie) erlassenen nationalen Rechts, sondern auch jeder anderen nationalen Regelung, einschließlich bereits bestehender Regelungen(47).
75. Das bedeutet, dass – übertragen auf das Verhältnis zwischen Rechtsakten der Union und internationalen Übereinkünften – die Verpflichtung zur konformen Auslegung für alle Rechtsakte der Union gelten würde, unabhängig davon, ob sie speziell zur Umsetzung einer internationalen Verpflichtung erlassen wurden oder nicht. Mit anderen Worten: Die Unionsgerichte hätten nicht nur in einer Nakajima-Situation, sondern auch in einer Rusal-Armenal-Situation eine unionsrechtliche Regelung im Einklang mit einer internationalen Übereinkunft auszulegen. Eine solche den Unionsgerichten trotz des grundsätzlichen Ausschlusses einer unmittelbaren Wirkung auferlegte Verpflichtung, alles zu tun, um sicherzustellen, dass die unionsrechtliche Regelung die gleiche Bedeutung erhält, wie sie in einer internationalen Übereinkunft vorgesehen ist, liefe dem Sinn und Zweck dieses Ausschlusses zuwider.
76. Auf unseren Fall bezogen, heißt das: Soll die unmittelbare Wirkung der PVÜ deshalb verneint werden, um den Unionsgesetzgeber in die Lage zu versetzen, eine frühere Patentanmeldung als Grundlage für die Inanspruchnahme von Prioritätsrechten für ein späteres Gemeinschaftsgeschmacksmuster auszuklammern, dann erscheint es wenig sinnvoll, darauf zu bestehen, dass der Gerichtshof die Verordnung Nr. 6/2002 gleichwohl so auslegt, dass ein solches Ergebnis erreicht wird.
77. Wenn der Gerichtshof also meiner Einschätzung, dass die PVÜ im vorliegenden Fall unmittelbare Wirkung entfalten kann, deshalb nicht zustimmt, weil der Unionsgesetzgeber die Verordnung Nr. 6/2002 nicht an die PVÜ habe anpassen wollen, sondern vielmehr eine spezifische unionsrechtliche Maßnahme erlassen habe (die mit der PVÜ in Einklang stehen könne oder auch nicht), sollte der Gerichtshof feststellen, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, indem es überhaupt den Versuch einer konformen Auslegung unternommen hat. Meines Erachtens ist eine unmittelbare Wirkung wie auch eine Verpflichtung zur konformen Auslegung in einer Rusal-Armenal-Situation ausgeschlossen. Von der Suche nach einer Lücke im Unionsrecht, um sie durch eine PVÜ-konforme Regelung zu schließen, sollte in einem solchen Fall abgesehen werden. Wie ich im nächsten Abschnitt zeigen werde, ist die konforme Auslegung eine besondere Auslegungsmethode, die Kreativität erfordert, damit ein von der Zielvorschrift (hier: Art. 4 PVÜ) vorgeschriebenes Ergebnis erreicht wird. Sie sollte daher nur in einer Nakajima-Situation herangezogen werden.
78. Dies bringt mich zum nächsten Argument des EUIPO, wonach das Gericht die Grenzen einer konformen Auslegung überschritten habe.
2. Grenzen der Verpflichtung zur konformen Auslegung
79. Das EUIPO macht geltend, das Gericht habe Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 contra legem ausgelegt. Es habe die Begriffe „Patent“ und „zwölf Monate“ in diese Bestimmung hineingelesen, obwohl deren eindeutiger Wortlaut nur Geschmacks- und Gebrauchsmuster sowie eine Prioritätsfrist von sechs Monaten zulasse.
80. KaiKai stellt in Abrede, dass Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 eine abschließende Regelung enthalte. Das Gericht habe zutreffend festgestellt, dass eine zu schließende Lücke bestehe und dass diese Bestimmung keine besonderen Vorschriften über die Dauer der auf eine Patentanmeldung gestützten Prioritätsfrist enthalte. Daher hat KaiKai in der mündlichen Verhandlung betont, dass keine Auslegung contra legem gegeben sei; Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 schließe nach seinem Wortlaut nicht aus, dass andere Arten von Rechten des geistigen Eigentums als Grundlage für das Prioritätsrecht dienen könnten.
81. Im (unions‑)internen Bereich hat der Gerichtshof, beginnend mit dem Urteil in der Rechtssache Pupino(48), anerkannt, dass der Pflicht der nationalen Gerichte, unionsrechtskonforme Entscheidungen zu erlassen, eine Contra-legem-Grenze gesetzt ist. Der Gerichtshof hat die Bedeutung dieser Grenze noch nicht näher erläutert. Das EUIPO scheint darunter aber zu verstehen, dass die Gerichte sich nicht über einen klaren und unmissverständlichen Wortlaut hinwegsetzen dürfen(49).
82. Vor diesem Hintergrund macht das EUIPO geltend, dass der Unionsgesetzgeber die Fälle, in denen ein Prioritätsrecht für die spätere Anmeldung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters beansprucht werden könne, abschließend und eindeutig geregelt habe; Patentanmeldungen gehörten nicht dazu(50). Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 weise keine Regelungslücke auf. Mit der Feststellung einer solchen Lücke habe das Gericht Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 contra legem ausgelegt.
83. Ob die Feststellung einer solchen Lücke contra legem ist, hängt meines Erachtens davon ab, in welchem Zusammenhang ein Gericht seine Auslegung vornimmt. Gäbe es die für die Union aufgrund des TRIPS-Übereinkommens verbindliche PVÜ nicht oder wäre diese irrelevant(51), bestünde für das Gericht kein Grund zur Annahme einer Gesetzeslücke. Die Feststellung einer solchen Lücke könnte aber eine Lösung im Rahmen einer PVÜ-konformen Auslegung sein. Mit der konformen Auslegung soll nicht nur die Bedeutung einer Bestimmung ermittelt, sondern auch eine den Anforderungen der Zielvorschrift entsprechende spezifische Lösung gefunden werden.
84. Unter Berufung auf den Wortlaut von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 meint das EUIPO, Patentanmeldungen kämen als gültige Grundlage für ein Prioritätsrecht nach dieser Vorschrift klar und eindeutig nicht in Betracht. Ist das wirklich der Fall? Tatsächlich gibt es in der Verordnung Nr. 6/2002, wie von KaiKai angeführt, keine Bestimmung, der zufolge eine Patentanmeldung ausdrücklich ausgeschlossen wäre. Wie die Schönheit im Auge des Betrachters, liegt der Grad der Eindeutigkeit im Auge desjenigen, der die Auslegung vornimmt.
85. Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 sieht in der Tat ausdrücklich nur zwei Arten von Voranmeldungen vor: (i) die Anmeldung von Geschmacksmustern und (ii) die Anmeldung von Gebrauchsmustern. Bei isolierter Betrachtung gibt es keinen Grund für die Annahme, der Unionsgesetzgeber habe „vergessen“, frühere Patentanmeldungen zu regeln.
86. Betrachtet man die Verordnung Nr. 6/2002 aber im Rahmen der Verpflichtungen aus der PVÜ, wie die Union sie aufgrund des TRIPS-Übereinkommens eingegangen ist, und versteht man die PVÜ in dem Sinne, dass die Inanspruchnahme eines Prioritätsrechts für eine auf eine frühere Patentanmeldung gestützte Geschmacksmusteranmeldung ermöglicht werden muss, dann ändert sich die Auslegung. Dann erscheint es als ein Versäumnis des Unionsgesetzgebers, dass Patente überhaupt keine Erwähnung gefunden haben. Im Rahmen der konformen Auslegung hat ein Gericht etwaige Unzulänglichkeiten des Gesetzgebers zu korrigieren. Daher sollte das Gericht nicht daran gehindert sein, eine Gesetzeslücke festzustellen, die sich auf das mutmaßliche Erfordernis der PVÜ stützt, die Kombination zwischen einem früheren Patent und einem späteren Geschmacksmuster zu berücksichtigen. Die Feststellung von Regelungslücken ist aus meiner Sicht eine zulässige Methode im Rahmen der konformen Auslegung.
87. Dies dürfte zumindest im internen Bereich – also der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts – der Fall sein. Wie bereits dargelegt (siehe Nr. 74 dieser Schlussanträge), geht die den nationalen Gerichten obliegende Pflicht zur konformen Auslegung in solchen internen Angelegenheiten sehr weit. Dabei hat der Gerichtshof die Ansicht nationaler Gerichte, eine andere Auslegung des nationalen Rechts sei contra legem, nicht ohne Weiteres akzeptiert. Er hat von den nationalen Richtern verlangt, kreativer als bei ihrer nationalen Entscheidungspraxis zu sein, um das angestrebte Ergebnis zu erreichen(52), und sogar von einer ständigen Rechtsprechung bei der Auslegung der jeweiligen nationalen Vorschrift abzuweichen(53). Die geforderte Kreativität gilt auch für die Feststellung von Regelungslücken(54).
88. Sollten die Unionsgerichte aber genauso kreativ vorgehen, wenn sie Unionsrechtsakte im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen der Union auszulegen haben?
89. Der Gerichtshof hat die Verpflichtung zur konformen Auslegung im internen Bereich wie folgt begründet: Die den Mitgliedstaaten zuzurechnenden nationalen Gerichte sind an die Loyalitätspflicht gebunden, die heute in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegt ist und als Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit bezeichnet wird(55). Die nationalen Gerichte sind somit verpflichtet, im Rahmen ihrer Befugnisse, d. h. bei der Auslegung des Rechts, die mit dem Unionsrecht verfolgten Ziele zu erreichen. Außerdem dürfte aufgrund dieser Loyalitätspflicht davon auszugehen sein, dass ein Mitgliedstaat in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber nicht gegen das Unionsrecht verstoßen will. Dies lässt den Schluss zu, dass alle – vor oder nach dem Unionsrecht erlassenen – nationalen Regelungen unionsrechtskonform sind, sofern nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist(56). Für die nationalen Gerichte bedeutet dies, dass sie sich mit einer unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts nicht über den Willen des Gesetzgebers hinwegsetzen.
90. Wenngleich die Union nach Art. 216 Abs. 2 AEUV bzw. nach dem internationalen Grundsatz pacta sunt servanda an ihre internationalen Verpflichtungen gebunden ist, beruht dies nicht auf derselben Loyalitätspflicht verfassungsrechtlicher Natur(57), wie sie für die Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV gilt. Die Vermutung, dass der Unionsgesetzgeber nicht gegen die internationalen Verpflichtungen der Union verstoßen wollte, kann nicht so stark sein wie die gleiche Vermutung im internen Bereich.
91. Dies könnte die Auffassung rechtfertigen, dass die Pflicht zur Auslegung des Unionsrechts im Einklang mit internationalen Übereinkünften weniger weit reicht. Insofern könnte die Feststellung von Lücken eher als eine Auslegung contra legem qualifiziert werden, wenn es an einem eindeutigen Beweis dafür fehlt, dass sich der Unionsgesetzgeber an die internationalen Verpflichtungen der Union halten wollte. Auf alle Fälle ist die Contra-legem-Grenze einer konformen Auslegung ihrerseits in jedem Einzelfall auslegungsbedürftig.
92. Da der Unionsgesetzgeber die Prioritätsrechte bei Anmeldungen von Gemeinschaftsgeschmacksmustern fast mit demselben Wortlaut wie in der PVÜ geregelt hat, kann dies – obwohl er nirgendwo in der Verordnung Nr. 6/2002 ausdrücklich seine Absicht bekundet hat, sich an die Prioritätsregeln der PVÜ zu halten – meines Erachtens, wie ich bereits dargelegt habe (siehe Nr. 68 dieser Schlussanträge), als eine Nakajima-Situation betrachtet werden. Daher wäre die Feststellung einer Lücke in der Verordnung Nr. 6/2002 gerechtfertigt und keine Auslegung contra legem, wenn in der PVÜ wirklich eindeutig eine zwölfmonatige Prioritätsfrist vorgeschrieben wäre. Das Gericht hat daher nicht fehlerhaft gehandelt, als es versuchte, die Verordnung Nr. 6/2002 im Einklang mit der PVÜ auszulegen.
93. Meines Erachtens enthält die PVÜ aber keine solche – und schon gar keine so eindeutige – Vorschrift, die eine zwölfmonatige Prioritätsfrist verlangt, weshalb das Gericht die PVÜ fehlerhaft ausgelegt hat. Damit komme ich zum letzten Teil meiner Schlussanträge.
B. Auslegung der Pariser Verbandsübereinkunft
94. Die Auslegung der PVÜ wirft zwei Hauptfragen auf, welche die Parteien unterschiedlich beantworten.
95. Erstens macht das EUIPO mit Unterstützung der Kommission geltend, das Gericht habe zu Unrecht angenommen, dass nach der PVÜ eine frühere Patentanmeldung als Grundlage für eine spätere Geschmacksmusteranmeldung dienen könne. Nach Ansicht von KaiKai hat das Gericht die PVÜ korrekt ausgelegt.
96. Zweitens argumentiert das EUIPO, das Gericht habe zu Unrecht festgestellt, dass die PVÜ eine allgemeine Regel aufstelle, wonach das ältere Recht die Dauer der Prioritätsfrist festlege, und dass Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 PVÜ davon eine Ausnahme bilde. Daher habe das Gericht KaiKai zu Unrecht eine Prioritätsfrist von zwölf Monaten zugebilligt. KaiKai verteidigt die vom Gericht vertretene Auslegung.
97. Aus meiner Sicht hat das Gericht zu Recht festgestellt, dass die PVÜ einen auf der Kombination zwischen einer früheren Patentanmeldung und einer späteren Geschmacksmusteranmeldung beruhenden Prioritätsanspruch zulässt. Das Gericht hat aber insoweit einen Rechtsfehler begangen, als es eine zwölfmonatige Prioritätsfrist für den Fall angenommen hat, dass der Prioritätsanspruch für ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster auf eine frühere Patentanmeldung gestützt ist.
98. Bevor ich meine Gründe für eine solche Auslegung der PVÜ darlege, möchte ich kurz auf die Methoden eingehen, die der Gerichtshof bei der Auslegung einer internationalen Übereinkunft wie der PVÜ anwenden sollte.
1. Methoden der Auslegung einer internationalen Übereinkunft
99. Das Völkerrecht, einschließlich des WTO-Rechts, besitzt trotz seines Streitbeilegungsmechanismus kein Rechtsprechungsorgan, das befugt wäre, internationale Übereinkünfte für alle anderen Akteure verbindlich und rechtskräftig auszulegen. Im Gegensatz zur Unionsrechtsordnung fehlt es also an einem Mechanismus, der eine einheitliche Auslegung gewährleistet.
100. Ein Instrument zur Entschärfung des Problems der divergierenden Auslegung ist das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (im Folgenden: Wiener Übereinkommen), das Regeln für die Auslegung von internationalen Übereinkommen enthält(58). Die Union ist zwar nicht Vertragspartei dieses Übereinkommens; dessen Regeln stellen jedoch eine Kodifizierung des Völkergewohnheitsrechts dar(59), und die Union hat sie bei der Auslegung internationaler Übereinkünfte anzuwenden(60).
101. Art. 31 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens enthält die folgende allgemeine Auslegungsregel: „Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen.“ In Art. 31 Abs. 2 bis 4 dieses Übereinkommens finden sich weitere Klarstellungen und in Art. 32 einige zusätzliche Auslegungsregeln.
102. Meines Erachtens unterscheiden sich die Auslegungsregeln des Wiener Übereinkommens kaum von den üblichen Auslegungsmethoden des Gerichtshofs. Daher sollte der Gerichtshof bei der Auslegung der PVÜ deren Wortlaut und Zusammenhang sowie den Zweck berücksichtigen, zu dem sie in erster Linie angenommen wurde. Ausgangspunkt sollten aber Wortlaut, Kontext und Zweck dieser internationalen Übereinkunft selbst sein, nicht aber die Art und Weise, wie die Union sie umgesetzt hat. Selbst wenn also der Unionsgesetzgeber die PVÜ bona fide im Sinne der Unzulässigkeit der Kombination aus einem früheren Patent und einem späteren Geschmacksmuster verstanden und deshalb beschlossen hat, nur frühere Geschmacks- und Gebrauchsmuster als Grundlage der Prioritätsrechte für Gemeinschaftsgeschmacksmuster zuzulassen, bedeutet dies nicht, dass dieses Verständnis der PVÜ zutreffend wäre(61).
103. Vor diesem Hintergrund prüfe ich nun die beiden strittigen Fragen.
2. Eine frühere Patentanmeldung als Grundlage der Prioritätsrechte für eine spätere Geschmacksmusteranmeldung
a) Vorbemerkungen
104. Der Schutz des geistigen Eigentums ist gebietsbezogen, d. h., er gilt nur im Gebiet des Landes (oder der Region), das (die) ihn gewährt. Für die Arten von Rechten des geistigen Eigentums, deren Schutz von einer Eintragung abhängt, wie etwa Patente, Gebrauchs- und Geschmacksmuster, bedeutet dies, dass der Schutz nur in dem Gebiet gilt, das in die Zuständigkeit der Registrierungsstelle fällt, die ihn jeweils gewährt hat.
105. Wer seine Erfindung, sein Geschmacksmuster oder seine Marke, unter der das Produkt verkauft wird, schützen lassen will, muss diesen Schutz in jedem einzelnen Land bzw. jeder einzelnen Region beantragen. Um die mit der Territorialität des Schutzes des geistigen Eigentums verbundenen Probleme zu entschärfen, wurde mit der PVÜ das System der Prioritätsrechte eingeführt. Damit wird zwar nicht die Notwendigkeit beseitigt, den Schutz in jedem gewünschten Gebiet gesondert zu beantragen, aber es wird für die Beantragung eines solchen Schutzes „Zeit gewonnen“, bevor potenzielle Konkurrenten dasselbe tun können. Diese Zeit, die sogenannte Prioritätsfrist, kann sechs oder zwölf Monate betragen und wird mit der ersten ordnungsgemäß eingereichten Anmeldung in Gang gesetzt.
106. Neben der Territorialität besteht eine weitere Schwierigkeit beim Schutz des geistigen Eigentums darin, dass es unterschiedliche Arten von Rechten am geistigen Eigentum gibt. Die Länder definieren unterschiedlich, was unter einer bestimmten Art von Recht am geistigen Eigentum zu verstehen ist, und sehen nicht alle dieselben Arten von Immaterialgüterrechten vor. So erkennen offenbar elf Mitgliedstaaten der Union das Gebrauchsmuster als eine eigene Form des Rechts am geistigen Eigentum an(62). Überdies werden ähnliche Arten von Rechten des geistigen Eigentums oft unterschiedlich benannt. So wird etwa die nächstliegende Art des Schutzes dessen, was in Europa üblicherweise als Geschmacksmuster bezeichnet wird, in den Vereinigten Staaten als „design patent“ bezeichnet(63). Selbst der Begriff Gemeinschaftsgeschmacksmuster ist auf Unionsebene nicht einheitlich. So ist in der englischen Fassung der Verordnung Nr. 6/2002 von „community designs“ die Rede, während die französische Fassung von „dessins ou modèles communautaires“ spricht(64).
b) Anmeldung nach dem PCT
107. Der PCT, nach dem KaiKai ihre Anmeldung einreichte, aufgrund deren sie im vorliegenden Fall beim EUIPO die Anerkennung eines Prioritätsrechts beantragte, geht auf internationale Bemühungen zurück, mit denen den Erfindern das Leben erleichtert werden sollte.
108. Der PCT ist ein internationales Abkommen, das 1970 geschlossen wurde und 1978 in Kraft trat. Er hat derzeit 157 Unterzeichnerstaaten, darunter alle 27 Mitgliedstaaten der Union, aber nicht die Union selbst. Er ist ein Sonderabkommen im Rahmen der PVÜ und wird von der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) verwaltet. Der PCT sieht die Einreichung einer „internationalen Anmeldung“ zum Schutz von Erfindungen vor(65). Sobald eine solche internationale Anmeldung eingereicht ist, kann sie als Anmeldung für ein Patent, ein Gebrauchsmuster sowie andere Arten des Schutzes von Erfindungen, wie Erfinderscheine und Gebrauchszertifikate, verstanden werden(66). Nach der internationalen Phase, die nicht zur Gewährung des Schutzes führen kann, muss die Person, die eine internationale Anmeldung eingereicht hat, die nationale Phase einleiten, in deren Verlauf sie in jedem Land oder jeder Region die geeignete Form des Schutzes separat beantragt. Mit einer internationalen Anmeldung soll u. a. ein Anmeldetag zur Inanspruchnahme von Prioritätsrechten festgelegt werden.
109. Das EUIPO trägt vor, der erste Fehler in der Begründung des Gerichts bestehe darin, dass es den Begriff „internationale Patentanmeldung“ benutzt habe, den es als Rechtsbegriff nicht gebe. KaiKai habe tatsächlich eine internationale Anmeldung im Sinne des PCT eingereicht, nicht aber eine internationale Patentanmeldung. Wie ich soeben dargelegt habe, kann eine solche internationale Anmeldung entweder als Patentanmeldung oder als Gebrauchsmusteranmeldung verstanden werden; solange aber keine diesbezügliche Wahl durch Einreichung einer nationalen Anmeldung getroffen wird, bewirkt eine internationale Anmeldung gewissermaßen einen Zustand der Überlagerung im Sinne der Quantenmechanik – sie ist gleichzeitig eine Patent- und eine Gebrauchsmusteranmeldung.
110. Meines Erachtens wollte das Gericht durch die Verwendung des Begriffs „internationale Patentanmeldung“ unterstreichen, dass die Anmeldung von KaiKai als Patentanmeldung verstanden werden könne, selbst wenn insoweit auch eine Gebrauchsmusteranmeldung möglich sei. Genau deshalb war das Gericht der Ansicht, dass KaiKai eine Prioritätsfrist von zwölf Monaten zustehe. Um erneut die Terminologie der Quantenphysik zu bemühen: Während das Gericht die internationale Anmeldung von KaiKai in ein Patent „kollabieren“ ließ, nahm das EUIPO den „Kollaps“ in ein Gebrauchsmuster vor. Das ist genauso, als würde das EUIPO sie als „internationale Gebrauchsmusteranmeldung“ bezeichnen. Daher ist das Vorbringen des EUIPO, das Gericht habe einen nicht existierenden Begriff benutzt, irrelevant.
c) Gründe für die Auslegung der PVÜ in dem Sinne, dass die Kombination zwischen einem früheren Patent und einem späteren Geschmacksmuster zulässig ist
111. Die PVÜ sieht nicht ausdrücklich vor, dass ein Prioritätsrecht für eine spätere Geschmacksmusteranmeldung auf eine frühere Patentanmeldung gestützt werden kann. Sie schließt eine solche Möglichkeit aber auch nicht aus.
112. Nach dem Wortlaut von Art. 4 Abschnitt A Abs. 1 PVÜ sind verschiedene Erstanmeldungen möglich („die Anmeldung für ein Erfindungspatent, ein Gebrauchsmuster, ein gewerbliches Muster oder Modell, eine Fabrik- oder Handelsmarke“), wobei für eine spätere Anmeldung in anderen Ländern ein Prioritätsrecht besteht, ohne dass jedoch die Art dieser späteren Anmeldung präzisiert wäre. Dem lässt sich unschwer entnehmen, dass jede der aufgezählten möglichen Erstanmeldungen Prioritätsrechte für jede spätere Anmeldung begründen kann.
113. Der Wortlaut von Art. 4 Abschnitt A Abs. 1 PVÜ ist daher nicht allein maßgebend. Vielmehr spricht der Zusammenhang, in den die PVÜ einzuordnen ist und der die vielfältigen Formen der weltweiten Immaterialgüterrechte umfasst, für eine Auslegung, die der Form oder Bezeichnung eines Rechts des geistigen Eigentums keine entscheidende Rolle beimisst.
114. Das EUIPO meint, das Gericht habe die allgemeine Regel der PVÜ über die Identität des Gegenstands verkannt. Jede Art von gewerblichem Schutzrecht begründe ein Prioritätsrecht nur für dieselbe Art von Recht, wie ein Patent für ein Patent, ein Geschmacksmuster für ein Geschmacksmuster oder ein Gebrauchsmuster für ein Gebrauchsmuster(67). Sofern nicht ausdrücklich etwas anderes vorgesehen sei, könne daher nur ein älteres Geschmacksmuster ein Prioritätsrecht für ein späteres Gemeinschaftsgeschmacksmuster begründen; ein Patent genüge dieser Regel nicht.
115. Nach meinem Dafürhalten kann die Vorschrift über die Identität des Gegenstands im formalen oder im materiellen Sinne verstanden werden. Im vorliegenden Rechtsmittelverfahren scheint das EUIPO sie im formalen Sinne anzuwenden, da es auf der förmlichen Identität zwischen früherer und späterer Anmeldung besteht(68).
116. Der Leitfaden zur PVÜ scheint hingegen auf ein materielles Verständnis der Regel über die Identität des Gegenstands hinzudeuten. So heißt es in diesem Leitfaden zu Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 PVÜ: „Es wird selten vorkommen, dass ein gewerbliches Muster oder Modell und ein Gebrauchsmuster denselben Gegenstand betreffen, da das erstere grundsätzlich die dekorativen Aspekte eines gewerblichen Gegenstands betrifft, während sich das letztere auf dessen technische Neuheit bezieht“(69). Dieser Verweis auf denselben Gegenstand dürfte sich auf den Inhalt der neuen Idee beziehen, für die Schutz beantragt wird, und nicht auf die Form ihres Schutzes.
117. Mir scheint, dass auch das mit der PVÜ verfolgte Ziel, das Territorialitätsprinzip durch die Einführung von Prioritätsrechten zu lockern, ein solches materielles und kein formales Verständnis der Regel über die Identität des Gegenstands nahelegt.
118. Es dürfte gerade die Erkenntnis, dass es zu inhaltlichen Überschneidungen zwischen den Schutzgegenständen verschiedener gewerblicher Schutzrechte kommen könnte, gewesen sein, die dazu führte, dass die PVÜ 1925 geändert und Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 eingeführt wurde, der ausdrücklich eine Kombination aus einem früheren Gebrauchsmuster und einem späteren Geschmacksmuster zulässt.
119. Wenn eine solche inhaltliche Überschneidung zwischen einem Gebrauchsmuster und einem Geschmacksmuster bestehen kann, ist sie auch zwischen einem Patent und einem Geschmacksmuster möglich. Wie sich aus amtlichen Dokumenten der Union ergibt, ist ein Gebrauchsmuster ein eingetragenes Recht, das wie ein Patent einen ausschließlichen Schutz für eine technische Erfindung gewährt; es ähnelt einem Patent insofern, als die Erfindung neu sein muss, auch wenn die erforderliche Erfindungshöhe häufig niedriger ist als bei Patenten. Im Unterschied zu Patenten werden Gebrauchsmuster ohne vorherige Überprüfung der Neuheit und Erfindungshöhe erteilt. Daher kann dieser Schutz schneller und kostengünstiger erlangt werden, bietet aber auch weniger Rechtssicherheit(70). Gebrauchsmuster werden deshalb z. B. als „Patente zweiter Klasse“(71), „kleine Erfindungen“(72) oder nationale Patente „von kurzer Dauer“(73) bezeichnet.
120. Man mag sich fragen, warum die Möglichkeit, sich auf eine frühere Patentanmeldung für eine spätere Geschmacksmusteranmeldung zu berufen, nicht ausdrücklich in die PVÜ aufgenommen wurde, als Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 eingeführt wurde, um die Berufung auf ein Gebrauchsmuster zu erlauben. Nach meiner Meinung war dies gerade deshalb nicht notwendig, weil die Kombination aus einem früheren Patent und einem späteren Geschmacksmuster bereits aufgrund der Regel über die Identität des Gegenstands im materiellen Sinne möglich war. Der Grund für die ausdrückliche Erwähnung der Kombination zwischen Gebrauchs- und Geschmacksmuster liegt darin, dass Gebrauchsmuster in der PVÜ relativ neu waren.
121. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die PVÜ bereits 1883 geschlossen wurde. Damals war das Gebrauchsmuster als Form des Schutzes einer Erfindung noch kein Thema. Es wurde in der PVÜ erst 1911 auf der Grundlage der Revision der Washingtoner Konferenz anerkannt. Daraufhin wurde 1925 mit der Revision der Haager Konferenz Art. 4 Abschnitt E in die PVÜ aufgenommen(74). Es musste deshalb geklärt werden, wie sich Gebrauchsmuster in das System der Prioritätsrechte nach der PVÜ einfügten. Bei Patenten war das hingegen nicht erforderlich, weil die PVÜ sie von vornherein als eine Form des gewerblichen Rechtsschutzes anerkannte. Die Kombination aus einem früheren Patent und einem späteren Geschmacksmuster bedurfte bei einer inhaltlichen Überschneidung des Schutzgegenstands somit keiner besonderen Erwähnung, da sie sich bereits aus der Regel über die Identität des Gegenstands in materieller Hinsicht ergab.
122. Zusammenfassend lässt sich wegen der Ähnlichkeiten zwischen Patenten und Gebrauchsmustern nicht ausschließen, dass es auch zwischen einer früheren Patentanmeldung und einer späteren Geschmacksmusteranmeldung zu inhaltlichen Überschneidungen kommen kann. Geht man davon aus, dass die Regel über die Identität des Gegenstands materieller Natur ist, so gibt es keinen Grund, weshalb ein Patent nicht genauso wie ein Gebrauchsmuster Prioritätsrechte für ein späteres Geschmacksmuster begründen können sollte. Nach meiner Meinung wird dies durch keine einzige Bestimmung der PVÜ ausgeschlossen.
123. Daher hat das Gericht meiner Ansicht nach keinen Rechtsfehler begangen, als es die PVÜ dahin auslegte, dass eine frühere Patentanmeldung zur Begründung von Prioritätsrechten für eine spätere Geschmacksmusteranmeldung genutzt werden dürfe, sofern die beiden Anmeldungen inhaltlich denselben Gegenstand hätten.
3. Prioritätsfrist für eine auf einer früheren Patentanmeldung beruhende spätere Geschmacksmusteranmeldung
124. Das EUIPO macht geltend, es gebe keine der PVÜ-Logik innewohnende allgemeine Regel(75), wonach die Dauer der Prioritätsfrist durch die Art des früheren Rechts bestimmt werde. Das Gericht habe daher rechtsfehlerhaft angenommen, dass eine solche Regel bestehe.
125. Insofern stimme ich mit dem EUIPO überein.
126. Nach Art. 4 Abschnitt C Abs. 1 PVÜ gilt für Erfindungspatente und Gebrauchsmuster eine Prioritätsfrist von zwölf Monaten und für gewerbliche Muster oder Modelle sowie für Fabrik- oder Handelsmarken eine Prioritätsfrist von sechs Monaten. Aus dieser Bestimmung geht nicht hervor, ob diese Frist von dem früheren oder dem späteren Recht abhängt. Wie das EUIPO zu Recht bemerkt, stellt sich diese Frage bei einer Kombination mit identischen Elementen nicht. Sie wird jedoch bei heterogenen Kombinationen relevant, etwa wenn ein älteres Gebrauchsmuster auf ein jüngeres Geschmacksmuster oder ein älteres Patent auf ein jüngeres Geschmacksmuster trifft.
127. Für die erste dieser beiden Situationen enthält die PVÜ in Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 eine ausdrückliche Regelung, die auf die Dauer der Frist für das jüngere Recht abstellt, d. h. auf die in Art. 4 Abschnitt C Abs. 1 für gewerbliche Muster oder Modelle vorgesehene Sechsmonatsfrist. In der PVÜ fehlt es aber an einer Regelung für die zweite Konstellation, die aus einem früheren Patent und einem späteren Geschmacksmuster besteht.
128. Obwohl der Text keine Aussage darüber enthält, hat das Gericht aus der vermeintlichen allgemeinen Regel, wonach die Art des älteren Rechts für die Bestimmung der Dauer der Prioritätsfrist entscheidend sei, abgeleitet, dass die angemessene Frist für diese zweite Konstellation zwölf Monate betrage. Dies ergebe sich aus Art. 4 Abschnitt C Abs. 1 PVÜ, der für Patente zwölf Monate vorsehe.
129. Das Gericht hat Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 PVÜ als eine Ausnahme von dieser allgemeinen Regel aufgefasst. Das EUIPO macht hingegen geltend, Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 PVÜ sei zwar eine Ausnahme; die allgemeine Regel, von der diese Bestimmung abweiche, sei vom Gericht jedoch verkannt worden(76).
130. Zunächst ist dem Wortlaut der PVÜ nicht zu entnehmen, ob die Prioritätsfrist von der Art des älteren Rechts oder des jüngeren Rechts abhängt. In einem solchen Fall sind ergänzende Auslegungsmethoden in Betracht zu ziehen, wozu die Berücksichtigung der Materialien gehört.
131. In dieser Hinsicht ist das angefochtene Urteil aufschlussreich. Das Gericht hat erklärt, aus den Materialien zur PVÜ gehe hervor, dass die Prioritätsfrist für Patente von sechs auf zwölf Monate verlängert worden sei, weil es in einigen Ländern, namentlich in Deutschland, schwierig gewesen sei, die Vorprüfung der Patentanmeldung innerhalb der Sechsmonatsfrist durchzuführen(77).
132. Diese Darstellung verstehe ich folgendermaßen. Um die Dauer der Prioritätsfrist beurteilen zu können, sind zwei Daten relevant: der Anmeldetag des ersten Rechts, von dem an diese Frist läuft, und der Anmeldetag des späteren Rechts, mit dem diese Frist endet. Nimmt die Anmeldung eines Folgepatents in Deutschland mehr als sechs Monate in Anspruch, kann die frühere Anmeldung nicht mehr rechtzeitig geltend gemacht werden, wenn die Frist sechs Monate ab der ersten Anmeldung beträgt. Das bedeutet z. B., dass eine Person, die in Frankreich ein Patent angemeldet hat, das Folgepatent in Deutschland nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten anmelden könnte. Das war der Grund für die Verlängerung dieser Frist auf zwölf Monate. Auf diese Weise wurde ein Ausgleich hergestellt zwischen den Interessen des Anmelders eines gewerblichen Schutzrechts, der die Möglichkeit haben sollte, die internationale Erstreckung eines solchen Rechts innerhalb eines angemessenen Zeitraums zu organisieren, und den Interessen Dritter, die nicht mit zu langen Prioritätsfristen konfrontiert werden sollten, während deren es ihnen unmöglich wäre, ihrem Wunsch entsprechend für dieselben Gegenstände Rechte wirksam zu erwerben(78). Die Prioritätsfrist für Patente wurde, kurz gesagt, deshalb verlängert, weil die Anmeldeverfahren für ein Patent als Folgerecht in manchen Ländern sehr zeitintensiv sind.
133. Daher hat das Gericht meines Erachtens zu Unrecht angenommen, dass die PVÜ eine allgemeine Regel enthalte, wonach es für die Dauer der Prioritätsfrist auf die Erstanmeldung ankomme. Es erscheint mir sinnvoller, diese Frist von der späteren Anmeldung abhängig zu machen.
134. Ich bin somit der Ansicht, dass die Dauer der Prioritätsfristen, wie sie in Art. 4 Abschnitt C Abs. 1 PVÜ vorgesehen sind, von der Art der späteren, nicht aber der ersten Anmeldung abhängt.
135. Wendet man diese Logik auf den vorliegenden Fall an, so würde, wenn das Prioritätsrecht für eine spätere Geschmacksmusteranmeldung auf eine frühere Patentanmeldung gestützt wird, die Dauer der Prioritätsfrist gemäß Art. 4 Abschnitt C Abs. 1 PVÜ sechs Monate betragen.
136. Dem steht das Urteil des Gerichts in der Rechtssache TELEYE(79), auf das sich das Gericht im angefochtenen Urteil berufen hat(80), nicht entgegen. Im Urteil TELEYE hat das Gericht im Kontext des Markenrechts festgestellt, dass die Anmeldung eines früheren Rechts die Entstehung des Prioritätsrechts bewirke. Diese Schlussfolgerung steht offenbar in völligem Einklang mit der PVÜ, wonach es für den Beginn der Prioritätsfrist auf die Existenz und den Zeitpunkt der früheren Anmeldung ankommt. Im Gegensatz zu dem Grund, aus dem das Gericht dieses Urteil angeführt hat, sagt dies jedoch nichts über die Dauer der fraglichen Frist aus.
137. Ich stimme zwar mit dem EUIPO darin überein, dass im vorliegenden Fall die Prioritätsfrist sechs Monate beträgt, kann aber seinem Vorbringen zur fehlenden Gegenseitigkeit mit Drittländern, insbesondere mit den Vereinigten Staaten, nicht folgen. Das EUIPO beruft sich im Kern darauf, dass Geschmacksmuster in den Vereinigten Staaten durch das Patentrecht geschützt seien („design patents“) und dass Anmeldern infolge des angefochtenen Urteils automatisch eine zwölfmonatige Prioritätsfrist zustehe, während Anmelder in der Union nur über eine sechsmonatige Prioritätsfrist verfügten. In den EUIPO-Richtlinien werden jedoch US-amerikanische „design patents“ bereits als Anmeldungen von Geschmacksmustern behandelt, die während der sechsmonatigen Frist ab der Anmeldung als „design patents“ Prioritätsrechte für Gemeinschaftsgeschmacksmuster begründen können. Ich kann nicht erkennen, dass die Gegenseitigkeit zum Nachteil von Personen, die ihre frühere Geschmacksmusteranmeldung in der Union eingereicht haben, gestört würde, wenn eine frühere Patentanmeldung zwölf Monate Schutz für eine spätere Gemeinschaftsgeschmacksmusteranmeldung böte. Die US-amerikanischen „design patents“ würden nach wie vor als Geschmacksmuster- und nicht als Patentanmeldungen gelten.
138. Zuletzt möchte ich mich zu den auf Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 PVÜ gestützten Argumenten äußern. Das Gericht hat diese Bestimmung herangezogen, um seine Feststellung zu untermauern, dass es eine allgemeine Regel gebe, wonach die Prioritätsfrist von der Art des früheren Rechts abhänge. Es hat diese Bestimmung als eine Ausnahme von der vermeintlichen allgemeinen Regel verstanden, so dass nur in dieser besonderen Situation eine Prioritätsfrist an das spätere Recht anknüpfe. Meines Erachtens handelt es sich bei dieser Bestimmung jedoch nicht um eine Ausnahme, sondern um die Anwendung der allgemeinen Regel, wonach es für die Dauer der Prioritätsfrist auf die Art des späteren Rechts ankommt.
139. Infolgedessen sollte der Gerichtshof feststellen, dass das Gericht rechtsfehlerhaft entschieden hat, dass nach der PVÜ für eine auf einer früheren Patentanmeldung beruhende Geschmacksmusteranmeldung eine Prioritätsfrist von zwölf, nicht aber von sechs Monaten gelte.
140. Abschließend schlage ich dem Gerichtshof vor, die PVÜ so auszulegen, dass die Anmeldung eines späteren Geschmacksmusters (einschließlich eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters) auf eine frühere Patentanmeldung gestützt werden kann, sofern eine inhaltliche Identität des Gegenstands gegeben ist. Die Prioritätsfrist beträgt in diesem Fall, wie in der PVÜ für gewerbliche Muster oder Modelle vorgesehen, sechs Monate.
V. Konsequenzen
141. Der einzige Rechtsmittelgrund ist meines Erachtens zum Teil begründet. Daher sollte das angefochtene Urteil aufgehoben werden.
142. Gemäß Art. 61 Abs. 1 der Satzung sollte der Gerichtshof den zweiten Klagegrund, den KaiKai vor dem Gericht geltend gemacht hat, zurückweisen.
143. Nach meiner Meinung kann der Gerichtshof jedoch mangels Entscheidungsreife nicht über den ersten Klagegrund entscheiden, den das Gericht im angefochtenen Urteil nicht geprüft hat und bezüglich dessen Tatsachenbehauptungen, die den Rechtsstreit in der Sache betreffen, vor dem Gerichtshof nicht erörtert worden sind. Daher sollte die Sache an das Gericht zur Entscheidung über diesen Klagegrund zurückverwiesen werden und die Kostenentscheidung vorbehalten bleiben.
VI. Ergebnis
144. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor,
– das Urteil des Gerichts vom 14. April 2021, The KaiKai Company Jaeger Wichmann/EUIPO (Turn- oder Sportgeräte und ‑artikel) (T‑579/19, EU:T:2021:186), aufzuheben;
– den zweiten Klagegrund der The KaiKai Company Jaeger Wichmann GbR zurückzuweisen;
– die Sache an das Gericht zur Entscheidung über den verbleibenden Klagegrund zurückzuverweisen;
– die Entscheidung über die Kosten vorzubehalten.