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Kolumne Dietz & Das Wer ist hier eigentlich behindert?

Schauspieler André Dietz mit Teilnehmenden der TV-Show "Zum Schwarzwälder Hirsch"
André Dietz mit Teilnehmenden der Doku-Reihe "Zum Schwarzwälder Hirsch" - Erste Ausstrahlung am 24. Oktober um 20.15 Uhr auf VOX
© André Dietz
André Dietz ist Teil der Doku-Reihe "Zum Schwarzwälder Hirsch - eine außergewöhnliche Küchencrew und Tim Mälzer", die in drei Teilen ab dem 24. Oktober 2022 beim Fernsehsender VOX ausgestrahlt wird. In diesem Projekt geht es um 13 Menschen mit Down-Syndrom, die unter der Anleitung von Tim und André das Koch- und Servicehandwerk lernen – in einem eigens für sie eröffneten Restaurant. Seine Gedanken über die Zusammenarbeit in einem wahnsinnig inspirierenden Team, teilt André hier mit uns. 

Prolog

...und irgendwann stand ich da zwischen Zwiebeltart, Kaspressknödel und Schwarzwälder Kirsch, konnte nur noch grinsen… und dachte:

„In der Tarte, Lincoln hatte recht!“

Was wirklich wichtig ist  

Was war ich für ein Idiot? Was habe ich mir angemaßt zu wissen? Wie viele Schranken und Ängste, Ekel und Zweifel, wieviel Arroganz und Unvertrauen hatte ich in mir? Ich, als Vater einer Tochter mit Behinderung, war immer noch ableistisch (bitte nachschlagen und merken). Dann lernte ich 13 Menschen kennen, die all dies mit einem Schulterzucken abgeschüttelt haben. Ich dachte ich wäre der Typ, der immer sagt, was er denkt, und hielt mich für jemanden der das Herz auf der Zunge trägt.

Ein kluger Mann hat mal gesagt: „Man hilft den Menschen nicht, wenn man für sie tut, was sie selbst tun könnten!“ Der Typ hieß Abraham Lincoln. Hat dieses Zitat etwas mit Inklusion zu tun? Bedeutet dies etwa, mit Hilfe zur Selbsthilfe ist es getan? Damit würde man verdammt vielen Menschen mit Behinderung nicht gerecht werden. Viele sind auf die Hilfe der Gesellschaft, insbesondere die der Pflegenden angewiesen. In unserem speziellen Inklusions-Fall war dieses Zitat allerdings besonders zutreffend, denn bei diesem Projekt war genau das gefragt und vielleicht sogar der Weg zum Erfolg?

Meine Tochter mit dem Angelman-Syndrom hätte bei so einem Projekt niemals mitmachen können 

Wir hatten eine Crew von 13 Menschen zwischen 17 und 46 Jahren mit Trisomie 21, des wohl bekanntesten Gendefekts, auch Down-Syndrom genannt, am Start. Down ist allerdings das letzte Wort was mir einfällt, wenn ich an die drei Monate im Breisgau mit meinen neuen Freunden zurückdenke. Und wenn ich an jeden einzelnen der „Wilden 13“ denke, denke ich an den Menschen der er ist und nicht, dass ein Chromosomchen mehr auf dem Buckel, dafür verantwortlich ist, dass sie oder er  nur aus diesem Grunde, so ist wie sie oder er ist.

Fakt ist, dass unsere Mädchen und Jungs, Frauen und Männer den Stempel "Nicht für den ersten Arbeitsmarkt geeignet" auf dem Papier stehen hatten und wir wollten beweisen, dass sich zumindest das Beamtentum an dieser Stelle irrt.

Es gibt Leute die Vergleiche bemühen und sagen: „Hey, das mit dem Down-Syndrom geht doch noch... Es gibt Leute, die sind viel schlechter dran.“  Oder „Es gibt Angehörige, die haben viel mehr mit dieser oder jener Behinderung zu kämpfen.“ – Als gäbe es eine Art Wohlfühl-Gendefekt, als müsse man ständig in einen Leid-Contest treten. Und um allen Kritikern von vornherein entgegen zu wirken: JA, es gibt noch andere Gendefekte und Behinderungen. JA, unsere Leute brachten bereits einen gewissen Grad an Eigenständigkeit und Fähigkeiten mit, aber bleiben wir realistisch. Meine Tochter mit dem Angelman-Syndrom hätte bei so einem Projekt niemals mitmachen können.

Eltern von Menschen mit Behinderung machen alle einen Leidensweg durch. Das einzige Leid, was man Menschen mit Behinderung wiederum antut, ist hausgemacht. Und zwar von einer Gesellschaft, die sich Ihre Normen und Glaubenssätze aus der Vergangenheit zieht und dabei glaubt, zu wissen, welcher Weg, der einzig Wahre ist. Fakt ist, dass unsere Mädchen und Jungs, Frauen und Männer den Stempel "Nicht für den ersten Arbeitsmarkt geeignet" auf dem Papier stehen hatten und wir wollten beweisen, dass sich zumindest das Beamtentum an dieser Stelle irrt.

Mit Vertrauen kann jede:r über sich hinauswachen!

Weil ich schon mit einem abgefahren starken Zitat gestartet habe, hier das nächste. Sartre schreibt: „Der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht.“ Dietz sagt: „Manchmal ist der Mensch auch das, wozu ihn andere machen.“Und da lag ein echter Hammer begraben. Tim Mälzer und Ich lernten im Februar in Tims Bullerei in Hamburg 13 Menschen kennen, die ihr bisheriges Leben wie eine sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiung gelebt hatten. Nicht, weil die Eltern sie nicht umsorgt und für sie alles getan hätten, sondern weil die Gesellschaft bisher einfach nichts anderes für sie parat hatte. Diese 13 sollten mit anfänglicher Anleitung von Meister Mälzer, vielen erfahrenen Profis aus dem schulischen, gastronomischen und pflegenden Bereich und mir dazu gebracht werden, ein Restaurant zu schmeißen. Alleine!

Ich bin wirklich ein unumstößlicher Optimist, aber nach den ersten 2 Wochen Gefühlsachterbahn und von Tränendurchnässten T-Shirts dachte ich: „NO FUCKING WAY“! Tim dachte das auch. Dann schafften wir Workarounds, brachten Arbeitsschritte in andere Kontexte, auf andere Ebenen. Nutzten die Stärken, ließen die Schwächen links liegen, ich verteilte die Teilnehmer wie ein Fußballtrainer zwischen Service und Küche. Die Schnellen und Lauten in den Sturm, die Ruhigen in die Verteidigung. Wir nutzten Autismen und vermeintliche Schwächen, anstatt sie als Störfaktor zu sehen und badeten in den kleinsten daraus resultierenden Erfolgen.Aber nichts war so erfolgreich wie die Sache, die in allem Zwischenmenschlichen ziemlich schnell hinter der Liebe kommt: Vertrauen.

Die meisten unserer Teilnehmer hatten noch nie ein Messer in der Hand oder einen Gasherd angezündet. Selbst Leute, die schon länger inklusiv arbeiteten hatten Angst vor Unfällen, dem damit verbundenem eigenen Schaden und umgingen diese Schritte. Warnten sogar davor. Ohne diese Hürde zu überwinden, wären wir allerdings nie über das Kartoffelschälen hinausgekommen und genau an der Stelle verendet, an der die Inklusion immer wieder an Ihre Grenzen kommt. Wir haben Vertrauen geschenkt und haben ein noch größeres Geschenk zurückbekommen.

Eine unvergessliche Erfahrung – eine einzigartige Küchencrew 

Ihr merkt, ich will noch nicht zu viel verraten, aber so viel sei gesagt: Es waren stürmische Zeiten, auch wenn natürlich nicht immer alles so lief wie geplant. Ganz im Gegenteil! Dennoch: Ich würde nichts anders machen, denn es ist nicht möglich, keine Fehler zu machen, wenn man sich weiter entwickeln will. Außerdem (das ist jetzt echt mein letztes Zitat und ich bringe es nur, weil “Der Weg ist das Ziel“ zu durchgenudelt ist): »The process is more important than the result.« Wo auch immer wir gelandet sind. Wir haben alle Dinge erlebt, gemacht und empfunden, die wir bisher noch nicht kannten, egal wie viele Chromosomen unser Körper beherbergt.

Epilog

...ach und hatte Sartre recht?

Klar! Aber ich bin heute nicht nur das, wozu ich mich gemacht habe, sondern auch das, was 13 Menschen in 3 Monaten aus sich und mir gemacht haben.

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